Diese Vorbilder braucht keiner

Mutter. Ich habe neulich etwas gelesen, das mich nicht mehr losgelassen hat. Sätze von drei Schülerinnen in einem Buch über Schule. Was sie sagen, hat viel mit unserer Gesellschaft zu tun, und es lohnt sich, ihnen zuzuhören:

Wir glauben, dass viele Leute heute einen Job haben, der sie langweilt, in dem sie unzufrieden sind und den sie nur machen, weil sie Geld dafür bekommen. Sie schleppen sich morgens ins Büro und haben überhaupt keine Freude an ihrer Aufgabe. Und dann muss es ziemlich deprimierend sein, in diesem Beruf auch noch 40 Jahre gefangen zu sein. In der Zeitung steht, dass immer mehr Erwachsene Pillen oder Medikamente nehmen, damit sie nicht allzu traurig werden. Um die Zeit bis zur Rente zu überstehen. Vielleicht hat das damit zu tun, dass die Leute Dinge machen, die sie nicht begeistern. Die sie nicht interessieren. Wo ihnen schlecht wird, richtig übel. Und das hat vielleicht auch damit zu tun, dass sie in der Schule nicht gelernt haben, das zu tun, was ihnen wirklich liegt. Alle sagen, Erwachsene sollen unsere Vorbilder sein. Aber wir sind uns sicher, dass wir solche Vorbilder nicht gebrauchen können.“

Ich war perplex, als ich das las: Wie verdammt Recht sie haben. Denken wir jemals darüber nach, welches Bild wir abgeben, wenn wir unentwegt über Stress und Überarbeitung stöhnen? Wir klagen über Rückenschmerzen und Kopfschmerzen, sind frustriert, müde, gereizt – alles Folgen des Jobs. Wir fahren morgens mit stressverspannten Gesichern los, kommen abends mit ebensolchen Minen heim. Die Zeitungen sind voll von den Schicksalen Ausgebrannter, ständig werden neue noch schlimmere Zahlen genannt.  Und dann wundern wir uns, dass die Nachwachsenden zurückweichen und sagen: Arbeitsstress, Karriere – mit uns nicht. Sie haben doch Recht!
Warum zeigen wir ihnen nicht Erfüllung und Freude? Dass es sich lohnt, einen Beruf zu haben, in dem man seine Talente einbringen kann. Wie toll es sich anfühlt, wenn man seine Sache gut macht und sich einsetzt, auch wenn das zeitweise sehr stressig sein kann. Aber auch: Wie wichtig es ist, darauf zu achten, dass die Arbeit nicht das Leben überwuchert. Dass es ebenso wichtig ist, Nein zu sagen und neue Wege zu suchen, wenn man in einer Sackgasse steckt. Auch wenn das mit Risiken und vielleicht auch mit heftigen Einbußen behaftet ist. Die Balance zu finden, ist nicht leicht, auch deshalb nicht, weil man  sehr ehrlich mit sich sein muss. Gerade darum ist es wichtig, dass wir offen sind und darüber sprechen, den Diskurs führen, darüber, wie wir Leistung und Erfolg verstehen, wo sie uns bereichern, und wo nicht mehr. Wo die Grenze erreicht ist und der Preis zu hoch. Dann lernen nicht nur die Jungen von uns. Dann lernen wir auch selbst, nämlich ein Leben zu leben, das sich besser anfühlt, als „Ich bin so genervt, ich bin so kaputt“.

Tochter. Ich bin ein großer Fan der Jugend von heute. Ich werde nicht müde, sie vor Meckerfritzen zu verteidigen und ziehe meinen Hut davor, wie sie den Herausforderungen der heutigen Welt entgegentreten. Die Gesellschaft wandelt sich rasend wie nie, mit ihr die Bedürfnisse, die Lebensrealität, die Werte. Auch die der Jugend, dem Spiegel jeder Gesellschaft. Wir reden aufgeregt und mit rudernden Armen von Work-Life-Balance und Achtsamkeit, schreien nach einer Rückbesinnung zu mehr Miteinander und materieller Bescheidenheit, preisen die Selbstverwirklichung als Privileg einer erreichten finanziellen Sicherheit. Sollten wir einer Jugend, die danach strebt, dies auch zu leben, nicht die Hände schütteln?

In einem genialen Plädoyer für einen bescheideneren Kapitalismus schrieb Wolfang Uchatius 2013 in DIE ZEIT:

[…] In dem Film sagt der Müllsammler sinngemäß: Ich arbeite hart, damit es meinen Kindern einmal besser geht. Das ist seine Lebenseinstellung. Auch von Jan Müller (Anm.: Prototyp des heutigen 18-jährigen) gibt es einen typischen Satz. […] Er lautet: „Spaß und Freunde dürfen nicht zu kurz kommen.“

In Deutschland sitzen fast jede Woche irgendwelche Leute in den Talkshows, die sich über solche Sätze sehr aufregen können. Oft sind es Präsidenten eines Arbeitgeberverbandes oder Vorstände eines Unternehmens, manchmal auch Politiker. Sie sagen, die Deutschen seien faul geworden. Sie arbeiteten zu wenig. […]

Das ist eine seltsame Sicht auf den Fortschritt. Natürlich haben die Deutschen an Biss verloren. Ist das überraschend? Soll Jan Müller wieder zu Wilhelm Müller (Anm.: Prototyp des 18-jährigen um 1900) werden? Warum sollten Leute, vor deren Haus schon zwei Autos stehen, sich schinden wie die Irren? Für das dritte Auto? Den vierten Fernseher? […]

Hätte man Wilhelm Müller gefragt, was für ihn zu einem guten Leben gehöre, hätte er vermutlich geantwortet: Eine neue Hose. Ein Stück Fleisch. Ein eigenes Bett. Jan Müller dagegen sagt, er wolle eine Familie haben – und genug Zeit für sie.

Vor ein paar Tagen hatte ich beruflich mit einer Stiftung zu tun, die Menschen begleitet, die einen geliebten Menschen verloren haben. Hier können sich trauernde junge Menschen bis 25 kostenlos hinwenden. Hier finden sie Trost, ein offenes Ohr und das Gefühl, nicht allein zu sein. Neben zwei hauptamtlichen Mitarbeitern lebt diese Stiftung ausschließlich von etwa 30 ehrenamtlich arbeitenden Jugendlichen und jungen Erwachsenen.

Ich schaue mich um, und sehe viele junge Leute, die weniger arbeiten, dafür für ihre Familie dasein wollen und sich unentgeltlich für Fremde einsetzen. Als hätten sie begriffen, dass Geld und Karriere als Selbstzweck hinterfragenswert ist. Dass das Erreichen eines gewissen Lebensstandards (danke, vorherige Generationen!), uns die Freiheit – und vielleicht sogar die Verantwortung? – gibt, uns umzuschauen, uns wieder mehr Raum gibt für mehr soziales Engagement, Familienzeit, Dankbarkeit und Ruhe. Vielleicht ist es Zeit, dass der ein oder andere Vorstandsvorsitzende sich die „Jugend von heute“ zum Vorbild nimmt?

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