Die Mutter. Kennst du Grace Gelder? Sie ist Britin, vor wenigen Tagen war in den online-Ausgaben britischer Zeitungen über sie zu lesen: Sie hat geheiratet, sich selbst. Mit Ehering, Ehegelöbnis und 50 Gästen. Sie hat sich sogar den Hochzeitskuss gegeben: mit Hilfe eines Spiegels. Die Menschen haben sie gefeiert und bejubelt, und sie war glücklich. Heirate dich selbst, es gibt sogar Ratgeber dazu. Ich finde das befremdlich. Aber wenn ich so um mich herumschaue, sehe ich viele eingefleischte Alleinleber, die es eigentlich ebenso machen könnten wie Grace Gelder: sich selbst den Ring anstecken. Kann es sein, dass man zu lieben verlernt, wenn man lange allein lebt? Dass man die Lust verlernt, sich auf jemand anderen einzulassen, weil es anstrengend ist, weil es die gewohnte Ruhe stört, gewaltige Risiken birgt? Früher dachte ich immer, dass es die höchste Sehnsucht des Single-Menschen sei, sich irgendwann wieder zu verbinden. Aber inzwischen habe ich meine Zweifel. Auch bei der Liebesbereitschaft, gibt es eine Komfortzone, so wie beim Joggen, man scheut die Anstrengung, bleibt lieber auf dem Sofa liegen und weist bedauernd auf die Regentropfen draußen: Tja, man würde ja gern, aber. Genauso mit dem Verlieben: Ich will ja, aber da ist keiner. Keiner, der mich will. Keiner, den ich will. Keine Zeit, neue Leute kennenzulernen, zu erschöpft, rauszugehen, die Antennen hochzufahren. Zu nervig das Ganze. Mag ja sein. Beziehungsfaulheit – die neue großstädtische Befindlichkeit. Gut verdienende, gut ausgebildete Singles, die davor zurückzucken, aus der komfortablen Unabhängigkeit ihres Alltags mit sich allein herauszutreten. Weil sie in den Jahren der Freiheit kompromissfaul und bequem geworden sind, weil ihre Toleranzreservoirs ausgetrocknet sind. Vielleicht wird man so, wenn man zu lange alleine lebt. Vielleicht werde ich auch so. Und merke es nicht. Es ist ja auch enorm verführerisch: Wer sich allein ernähren kann, sich sein Leben angenehm machen kann, kommt wunderbar unzerrupft über die Runden, kann tun, was er möchte, jederzeit. Diese Freiheit ist eine Errungenschaft, ein Privileg, kostbar. Man kann sich daran gewöhnen. Und dann küsst man sich auf einer Parkbank selbst. …
Die Tochter. Lustigerweise habe ich heute gerade über die selbe Frage nachgedacht. Also fast – eher auf’s Sozialsein generell bezogen. Ich war die letzten 4 Tage nahezu ununterbrochen alleine. Erst zwei Tage Home Office, abends nur einmal zum Yoga. Dann ein ruhiges Wochenende allein. Das ist für mich eher ungewöhnlich, allein schon weil ich mit meinem Freund zusammenwohne, und auch sonst viel sozial unterwegs bin. Also: Der Freund in Spanien, keine Verabredungen mit Freunden, nur die nötigsten Telefonate, Zeitung lesen, herumdaddeln, Musik hören, aus dem Fenster glotzen, kochen, Kram erledigen. Herrlich. Ich brauchte das mal wieder. Der erste Tag im sozialen Vakuum ist manchmal gewöhnungsbedürftig und man weiß nicht so recht, wo man sich hintun soll. Dann wird es immer schöner. Irgendwie könnt ich grade ewig so weitermachen, und zwar, je mehr solcher Tage vergehen, desto doller könnt ich das. Man kehrt sich immer mehr in sich, verliert sich in der eigenen Welt, wird immer eckiger und reibungsscheuer. Wie eine Einsiedlerkrebs-Spirale. Und das geht so schnell, dass man schon am 2. Tag plötzlich regelrecht hochschreckt wie ein Tierchen, wenn das Telefon klingelt, und misstrauisch drumrumschleicht um das klingelnde Gerät, und sich fragt, wer da wagt, die heilige Ruhe zu stören. Und ob man zu Normalmenschkonversation grade überhaupt im Stande ist, oder nur Grunzlaute ‚rausbekommt. Ich finde das einen ganz wunderbaren, erholsamen, erdenden Zustand, ich brauche das ab und zu. Aber morgen habe ich einige Termine, tagsüber Job, abends privat, und das ist auch gut. Zum einen, weil ich auch wirklich wieder Lust auf Menschen habe, zum anderen aber auch, weil ich das Gefühl habe, ich MUSS, weil ich sonst wohlmöglich noch sozialphobisch oder sozialunfähig werde und meinen Job nicht mehr machen kann! Naja, nicht wirklich. Du weißt schon. Grunz.